Was ist Suchtdruck?
Meine Nüchternheit begann mit tausend Fragen, die plötzlich mit der angestauten Macht jahrelanger Verdrängung auf mich einprasselten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen psychischen Krankheit, um die Mechanismen zu verstehen und Symptome als solche zu erkennen, nennt man Psychoedukation und Therapeut:innen finden es meistens toll, wenn man das macht. Gute Therapeut:innen begleiten diesen Prozess und schicken einen nicht einfach mit einer Diagnose und dem Vorschlag, mal bei Google zu gucken, heim. Ich hatte weder Diagnose noch Therapeut:in – Aber ich hatte Google!
Als erstes fiel mir auf, dass man ganz schön tief graben muss, wenn man wirkliche Erklärungen bekommen möchte und nicht nur eine Reihe von Problembeschreibungen. Insbesondere die Frage, was Suchtdruck ist, trieb mich lange um. Woher kommt er und wieso hat man ihn - auch wenn man wochen- oder monatelang nicht mehr getrunken hat. Denn es ist nicht nur ein Kernkriterium für Abhängigkeit, es ist auch ein richtiges Scheißgefühl und eine Gefahrensituation für alle, die ihre Sucht überwinden wollen. Die meisten Definitionen sagen in etwa: Suchtdruck (oder Craving) ist das starke Verlangen nach einer Substanz, das durch innere oder äußere Reize ausgelöst werden kann und häufg in Kombination mit Entzugssymptomen auftritt.
No Shit Sherlock. Ich jedenfalls fühle mich nach solchen "Erklärungen" keinen Meter schlauer. Deshalb habe ich hier paar Erkenntnisse aufgeschrieben, die ich auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage “Was ist Suchtdruck” hatte.
Fakt 1: Das Gehirn ist kein Eimer
Als ich mich zum ersten Mal mit viel zu viel Fruchtbowle betrank, verschwendete ich keinen Gedanken daran, welche Mechanismen in meinem Hirn dadurch in Gang gesetzt wurden. Ich fühlte mich wie ein leerer Eimer, der dringend voll werden musste. Erst als wirklich nichts mehr reinging, hörte ich auf, torkelte ins Bett und schlief ein. Doch ein Gehirn ist kein Eimer. Es mag absurd klingen, dass mir das nicht früher aufgefallen ist, aber so ist das mit ausgeklügelten Systemen: Man bemerkt sie erst, wenn was schief geht. Und so war das auch mit meinem Gehirn. Erst nach vielen Jahren, in denen ich mal mehr, mal weniger und mal gar nicht trank (meistens natürlich mehr), dämmerte es mir: Unbemerkt hatte ich mich mit meinem Trinken in eine biochemische Ecke manövriert, aus der ich mich nicht mehr so einfach herausdenken konnte. Mit Ende 20 war mein Verstand – zumindest in Fragen des Trinkens – schlicht nicht mehr der Boss.
Die absolute Un-Eimerhaftigkeit des Gehirns zeigt sich unter anderem daran, dass es auf alles reagiert, was wir in uns reinkippen. Ganz besonders stark reagiert es auf psycho-aktive Substanzen. Auch das ist so banal, dass ich nicht weiß, wieso ich da nicht eher draufkam: Natürlich reagiert das Gehirn auf psycho-aktive Substanzen, sonst würden sie ja nicht funktionieren. Und natürlich reagiert es auch außergewöhnlich stark, denn sonst würden sie ja nicht so einen Spaß machen. Zumindest bis wir ausnüchtern und unser Körper alles daran setzt, wieder zu einem “Normal-Null” zurückzukehren.
Fakt 2: Unser Körper strebt nach Gleichgewicht
Bei der amerikanischen Autorin Annie Grace las ich zum ersten Mal einen Begriff, der für das Verständnis von Suchtdruck zentral ist: Homöostase. Er bezeichnet einen Idealzustand von Balance innerhalb unseres Körpers. Man kennt das von der Körpertemperatur: Die liegt bei allen Menschen um den Wert von 36,6° Celsius. Schon bei leichter Erhöhung bezeichnen wir das als Fieber und bleiben (hoffentlich) im Bett. Damit wir nicht einfach Fieber bekommen, wenn es draußen heiß ist, haben wir mit dem Schwitzen unsere körpereigene Klimaanlage eingebaut. Ein anderes bekanntes Beispiel dafür, wie unser Körper versucht Balance herzustellen, ist die Ausschüttung von Insulin als Reaktion auf einen steigenden Blutzuckerspiegel. Wenn dieser Mechanismus gestört ist, nennt man das Diabetes I. Wenn dieser Mechanismus zwar funktioniert, aber der Körper nicht mehr sensibel genug auf ihn reagiert, nennt man das Diabetes II.
Es gibt unfassbar viele dieser Prozesse in unserem Körper, die dafür sorgen, dass unsere biologisch-chemischen Funktionen wieder ins Gleichgewicht kommen. Die Beispiele verdeutlichen, dass wir den Prozess der Homöostase kennen und intuitiv wissen, dass ein dauerhaft aus der Balance geratenes Organ behandlungswürdig ist. Warum sollte unser Gehirn eine Ausnahme sein? Es ist schließlich Teil unseres Körpers, noch dazu ein ziemlich wichtiges Organ und (ich möchte es noch einmal betonen) kein Eimer!
Erstens müssen wir also feststellen, dass tatsächlich etwas passiert, wenn wir trinken und zweitens wissen wir jetzt, dass jedes Gehirn – auch meins, auch deins auch das von Angela Merkel, Christiane F. und Mick Jagger – nach Balance strebt. Damit es diesen Job bestmöglich machen kann, muss es dazulernen, sich verändern und anpassen – sonst könnten auch wir nicht dazulernen, uns verändern und anpassen.
Fakt 3: Das Gehirn lernt
Als ich zum ersten Mal Fruchtbowle in mich hineinkippte, veranstaltete Alkohol eine Party in meinem Hirn: Ich war entspannt, fühlte mich frei von meinen üblichen sozialen Ängsten und die Endorphine tanzten zwischen meinen Synapsen. Ich war laut, ausgelassen, voller Begeisterung für den mittelmäßigen Typen, mit dem ich frisch zusammen war und fand das insgesamt eine sehr lohnende Art, meine Zeit zu verbringen. Man kann sich vorstellen, dass mein Gehirn ein bisschen überrumpelt war. Eines wurde ihm jedoch sehr schnell klar: Fruchtbowle ist kein homöostatischer Normalzustand! Nicht nur meine Angst, auch meine gesunde Risikoeinschätzung hatten abgenommen und mit der Euphorie, die mein inneres Opioidsystem flutete, war auch meine Alarmzentrale lahmgelegt. Das waren wirklich keine guten Voraussetzungen, um am Leben zu bleiben. Um mich zu schützen, musste mein Gehirn dem Alkohol etwas entgegensetzen.
Spulen wir ein Jahrzehnt vor: Mit Mitte 20 hätte mich das bisschen Fruchtbowle von damals wohl kaum ausgeknockt. Nicht nur hätte ich den Becher mit demonstrativer Antihaltung (Ugh, ist das süß!) getrunken. Ich war auch zu einer gewohnheitsmäßigen Trinkerin herangewachsen, die relativ große Mengen Alkohol vertrug. Man sagt das so unhinterfragt: viel Alkohol vertragen. In Info-Flyern zu Alkoholabhängigkeit heißt das ja sehr spielverderberisch Toleranzentwicklung und wird als Merkmal der Abhängigkeit aufgeführt. Neurologisch steht folgendes hinter diesem Wort: Mein Gehirn hatte in den rund zehn Jahren des Alkoholkonsums gelernt, was passierte, wenn ich trank. Es hatte sich umgebaut, um besser mit der regelmäßigen Dosis Ethanol klarzukommen und ausgeklügelte Mechanismen entwickelt, um die Effekte abzufangen.
Fakt 4: Was raufgeht, geht auch runter
Eine einleuchtende Theorie, zur Frage, was da los ist, legten die Psychologen Richard Solomon und John Corbit bereits in den 70ern vor. In ihrer Opponent-Process Theory gehen sie davon aus, dass in unserem Gehirn zwei wesentliche Prozesse wirken: Der A-Prozess, in dem eine Substanz, zum Beispiel Alkohol, auf unser Gehirn einwirkt und der B-Prozess, in dem das Gehirn dagegen steuert, um zurück in Balance zu kommen. Es erschließt sich intuitiv, dass dieser B-Prozess stets genau das Gegenteil von dem bewirken muss, was die Substanz im A-Prozess angestoßen hat. Außerdem kennen wir dieses Gefühl nur zu gut: Die erste Wirkung von Alkohol ist angstlösend, entspannend und euphorisierend. Die Folgen bezeichnen wir verniedlichend als Hanxiety, also jene Mischung aus Anxiety, Anspannung und depressiver Verstimmung, die uns den Sonntag verhagelt.
Selbiges gilt übrigens auch für andere Substanzen: Nikotin wirkt kurzfristig entspannend, konzentrationsfördernd und appetithemmend. Jede:r Raucher:in weiß aber auch, wie subtil und gleichzeitig dringlich die Gegenreaktion ist: Nervosität, unterschwellige, aber umfassende Unruhe, Unkonzentriertheit, Hunger. Kaffee wiederum macht im A-Prozess erstmal wach und im B-Prozess müde. Und selbst bei völlig substanzlosen emotionalen Ausnahmezuständen lassen sich diese Effekte beobachten: Die Angst vor oder bei dem Fallschirmsprung wird abgelöst durch Euphorie.
Weil das Gehirn schlau und anpassungsfähig ist und mit jedem Getränk dazulernt, wird der B-Prozess immer schneller und immer stärker. Dass ich mit 26 also mehr vertrug als mit 16, bedeutete letztlich nur, gegen die lebensrettenden Maßnahmen meines Gehirns anzutrinken, um überhaupt noch etwas von der gewünschten Wirkung zu bekommen. Wie sagt man so schön: Der erste Rausch ist der beste und mit dem Alter werden die Kater schlimmer. That’s why.
Fakt 5: Das Gehirn ist sehr vorausschauend
Doch jetzt kommt der Knaller: Durch das regelmäßige Trinken hatte sich mein Gehirn beigebracht, nicht erst im Moment des Konsums zu reagieren, sondern bereits dann, wenn es Vorboten des Konsums erkannte. Anders gesagt: Mein Gehirn, der kleine Streber, fing schonmal mit dem super deprimierenden B-Prozess an, bevor ich überhaupt einen Tropfen Alkohol zu mir genommen hatte. Dieser voreilig in Gang gesetzte B-Prozess ist das Herzstück von Craving, nachdem der erste körperliche Entzug überwunden ist. Ich spürte ihn noch längere Zeit nach anstrengenden Arbeitstagen, sozial auslaugenden Events und selbst beim Geruch von nassen Aschenbechern.
Das gehört zu den großen Niederlagen so einer Suchtgeschichte: Irgendwann nimmt man die Droge immer auch, um Bedürfnisse zu befriedigen, die man ohne die Droge gar nicht gehabt hätte. Wie der Kaffeetrinker, der ohne Kaffee morgens nicht zu gebrauchen ist, einfach, weil er jeden Morgen Kaffee trinkt. Oder die Raucherin, deren Anspannung daher rührt, dass sie nicht geraucht hat. Dasselbe passiert bei regelmäßigem Alkoholkonsum. Ich habe diese diffuse leere Traurigkeit und Anspannung bloß nicht als B-Prozess oder Entzugssymptome erkannt. Ich dachte einfach, das ist mein Leben.
Fakt 6: Trigger starten den B-Prozess
Im Kontext von A- und B-Prozess lässt sich auch der “Trigger” verstehen, also jenes äußere oder innere Event, das den starken Drang auslöst, zu konsumieren. Egal, ob Uhrzeit, Geruch oder innere Leere - Es handelt sich um Reize, die unser Gehirn mit der jeweiligen Substanz verknüpft hat, sodass es vorsichtshalber schon mal den B-Prozess in Gang setzt. Das kann perfiderweise auch noch dann passieren, wenn man jahrelang nicht getrunken hat. Gleichzeitig gilt aber auch weiterhin Fakt 3: Das Gehirn lernt. Es verändert sich und entwickelt sich, je nachdem was wir ihm zumuten. Je häufiger wir Situationen durchleben, in denen wir nicht trinken, desto mehr lernt unser Hirn, dass es keine Gegenmaßnahmen ergreifen muss, weil der erwartete Konsum ausbleibt. Und wir brauchen auch keine Substanz damit wir zurück zur Homöostase kommen: Unser Hirn reguliert sich von ganz allein. Will heißen: Suchtdruck geht vorbei.
Fakt 7: Es ist kompliziert
Die Neurologin Judith Grisel nennt Alkohol in ihrem Buch “Never Enough - The Neuroscience and Experience of Addiction” einen Neurologischen Vorschlaghammer und ich weiß intuitiv, was sie damit meint. Die Wirkung von Alkohol ist paradoxerweise deshalb so komplex, weil es ein einfach gestricktes Molekül ist und deswegen in unzählige Prozesse im Hirn eingreifen kann. Einer dieser Prozesse dreht sich um das GABA- und Glutamat-System. Der Neurotransmitter GABA sorgt für Beruhigung und sein Gegenspieler Glutamat für Anregung. Um sich langfristig auf die ständige Überberuhigung durch Alkohol einzustellen, drosselte mein Gehirn mit der Zeit mein GABA-System (denn es sollte ja nicht mehr lange dauern, bis ich mich künstlich sedierte). Gleichzeitig drehte es mein anregendes Glutamat-System hoch und bildete mehr Rezeptoren aus, um meinen Betäubungsversuchen etwas entgegensetzen zu können. Diese Effekte waren dafür gedacht, sich auf meinen regelmäßigen Konsum einzustellen, aber waren natürlich auch im nüchternen Alltag spürbar. Zu viel Glutamat bedeutet zu viel Anregung und für mich, dass ich einfach ziemlich unentspannt war. Deutlich unentspannter, als wenn ich einfach nicht getrunken hätte. Ein Effekt, der mir eindrücklich vor Augen geführt wurde, als ich nüchtern wurde und mein GABA-Glutamat-System langsam wieder zurück in die Balance fand. Ich merkte, dass ich viel weniger anxious, nervös und fahrig bin, als mich Alkohol glauben ließ.
Auch das ist also ein Effekt, der bei Suchtdruck eine Rolle spielt: Langfristig entwickelte Prozesse im Hirn, die ein bisschen Zeit brauchen, um ihre Balance zu finden.
Was bringt uns das?
Festhalten kann man, dass die Wirkung von Alkohol komplex ist und unser Gehirn auf dem Weg in die Abhängigkeit lernt, sich auf diese künstlichen Extremzustände einzustellen. Es baut sich um und stellt sich auf eine neue Normalität ein, die eigentlich ein Ausnahmezustand sein sollte. Auf meinem Weg von Amateurin zu Profi drehten sich Schluck für Schluck Ursache und Wirkung um: Mein Gehirn setzte nicht mehr nur den B-Prozess in Gang, um mit der Droge klarzukommen. Ich nahm die Droge auch, um mit dem B-Prozess klarzukommen, den ich erst sehr viel später als solchen erkannte. Hierbei hilft das Wissen über einige grundlegende Effekte von Alkohol sehr. Es bildet einen Rahmen, um Erfahrungen einordnen zu können, sie aus dem Raum des moralischen Versagens in den der Neurobiologie zu verlagern, erweitert unseren Handlungsspielraum und baut Scham und Stigma ab.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die neurologische Ebene nie alle Antworten liefern kann - Es bleibt immer ein kleiner Rest des Rätsels. Der amerikanische Mediziner Carl Erik Fisher beschreibt dies in seinem Buch “The Urge” über die Geschichte der Sucht: Eine Kunstrestauratorin ist bestens vertraut mit den Molekülen und Pigmenten in der Farbe, weiß wie sie mit dem Material der Leinwand reagiert und versteht all die chemischen Zusammensetzungen. Und doch würde niemand sagen, dass dies die Ebene ist, auf der man Kunst versteht.