Habe ich eine Sucht-Persönlichkeit?

Ich bin dreizehn im Sommer 2003. Ich sitze mit meinem Freund Björn und seinen Kumpels auf einem staubigen Hügel in Süddeutschland und schaue auf den See, der sich glitzernd vor uns erstreckt. Die Luft ist trocken und heiß, in meiner Hand wird das Bier warm, deshalb trinke ich schnell. Die Jungs bauen eine Tüte und ich schaue betont uninteressiert dabei zu. Die fertige Kreation wandert von Hand zu Hand. Kai nimmt einen Zug und macht das Kiffergesicht, bei dem sich das Kinn beim Einsaugen erst nach vorne schiebt, sich dann alles in den Hinterkopf zieht, gefolgt von der Entspannung beim Ausatmen. Dann ist Benni dran, dann Björn. Björn nimmt einen zweiten Zug und Kai protestiert »Ey, nur ein Zug«, aber Björn sagt nur lässig »Ein Zug hat mehrere Abteile« und ich denke, er ist der coolste Mensch der Welt. Björn hält mir die Tüte hin, aber ich schüttele den Kopf. »Nee, lass mal«, sage ich, als hätte ich keine Angst. Die anderen Jungs wollen wissen wieso: »Kiffst du gar nicht?« Ich weiß nicht, ob sie es nur nicht aushalten, in der Gegenwart einer (naja) Nüchternen zu sein, ob sie meinen, mir was Gutes zu tun oder ob sie richtig Bock haben, dabei zu sein, wenn jemand zum ersten Mal bekifft ist. Vielleicht auch von allem ein bisschen. Auf jeden Fall versuchen sie, mich zu überreden, bis Björn sagt »Ey, lass mal. Wenn sie nicht will, will sie nicht« und ich denke, er ist der coolste Mensch der Welt.

Ich hatte viele Jahre lang Angst vor dem Kiffen. Ich hatte immer Angst vor allen nicht-legalen Substanzen, weil ich tatsächlich an »Einstiegsdrogen« glaubte. Ich dachte, dass es vermutlich sehr medizinische  Gründe gibt, wieso Gras illegal und Alkohol legal ist. Dass man vom Kiffen schnell abhängig werden würde und bei allen noch härteren Drogen das Leben schon auf Messers Schneide ist. Mit 16 hatte ich einen guten Freund, der seine Bong immer so neben dem Sofa stehen hatte, dass er sie beim Filmgucken leicht greifen konnte, und er griff oft danach. Er dealte und ich sah dabei zu, wie das Durchschnittsalter seines Freundeskreises bei 16 hängen blieb, einfach weil die Gymnasiasten seine besten Kunden waren. Zur selben Zeit hatte ich einen Boyfriend, der sagte, er sei mal vom Kiffen abhängig gewesen und habe in eine Klinik gemusst. Ich fand das verrucht und war froh, dass er nun so aufgeräumt und erwachsen mit mir saufen konnte. Wenn ich genauer darüber nachgedacht hätte, hätte ich gemerkt, dass ich nie Angst vor Drogen hatte, sondern immer nur vor mir selbst.

Ich ahnte bereits in jungen Jahren, dass ich Dinge, an denen ich einmal gefallen gefunden hatte, nicht einfach so wieder lassen konnte. Dass der unstillbare Sog, einmal aus der Flasche gelassen, das Potenzial hatte, mich mitzureißen. 

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Das Konzept der Suchtpersönlichkeit ist wissenschaftlich widerlegt, aber gesellschaftlich umstritten. Viele gehen selbstverständlich davon aus, dass die Ursache für Abhängigkeit tief in unserer inneren Konstitution liegt. Dass Alkoholismus bereits in uns angelegt ist, bevor wir überhaupt den ersten Drink in der Hand haben. Dass wir Alkoholiker:innen sind, egal ob wir schonmal getrunken haben oder nicht, und bereits als Kinder die berühmten »Charakterfehler« haben, über die wir später in Meetings reden. Doch die Forschung sucht vergeblich nach diesem einen Alkoholiker-Gen, das die biologische Ursache für Sucht ein für alle mal auf einen kleinen Abschnitt unserer DNA festnagelt. Es hat ein bisschen was von Minority Report oder von Hellseherei und es drängt sich die Frage auf: Wenn ein Baum im Wald umfällt und keiner ist da, um ihn zu hören, macht er ein Geräusch? Wenn ein Alkoholiker nie einen Schluck Alkohol getrunken hätte, wäre er dann dem Alkohol gegenüber machtlos?

Rein ideologisch lehne ich das Prinzip der Suchtpersönlichkeit ab. Es klingt mir viel zu deterministisch, zu einfach und zu komfortabel für die Mehrheitsgesellschaft. Schublade auf, Alkoholiker, Suchti, Junkie mitsamt der Gene rein, Schublade zu. Ich denke auch, dass alles, was die Nationalsozialisten für eine gute Idee hielten, sich disqualifiziert hat. Unerwünschtes Verhalten ins Innere der Persönlichkeitsstruktur zu verlagern, wurde unter den Nazis zum Prinzip. In der Gesetzgebung ab 1933 kategorisierte man Wiederholungstäter:innen als Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher und attestierte ihnen einen volksschädlichen Charakter, markierte sie als hoffnungslose Fälle und verurteilte sie unbefristet zu Konzentrationslager oder Sicherheitsverwahrung. Kriminalprävention halt. Ähnlich verhielt es sich mit den sogenannten »Asozialen«: In dieser Kategorie wurden jene zusammengefasst, die irgendwie als gemeinschaftsschädlich markiert worden waren – in einem ganz ähnlichen Wortsinn also, wie viele das Wort heute noch verwenden. Es handelte sich dabei nicht um eine feste Gruppe und wer hinzuzählte, lag im Ermessen der jeweiligen Gutachter, Ärzte oder Behörden. Als »asozial« verfolgt wurden unter anderem Obdachlose, Prostituierte, Menschen in Armut (vor allem solche mit vielen Kindern), Sinti und Roma sowie Alkoholiker.

Das Prinzip der Suchtpersönlichkeit erlaubte es auch, die Abhängigen aufzuteilen: Die einen, die diese Art der Persönlichkeit haben (also aus sich selbst heraus »asozial« sind) und jene Menschen, die einfach »nur so« zu viel trinken. Die Unterteilung in innerliche und äußerliche Ursachen verbreitete sich bis in die Suchthilfe hinein. Der Vorsitzende der Guttempler Theo Gläß schrieb zum Beispiel, es müsse unterschieden werden, in die Asozialen und die Trinker, die nur scheinbar trunksüchtig seien. »Die erste Gruppe muss hart angefasst werden und gehört ins Arbeitshaus. Die zweite gehört in die Behandlung des Arztes. Selbstverständlich werden wir Guttempler auch für diese beiden Gruppen Hilfsarbeit leisten, wenn es möglich ist. Unser eigentliches Arbeitsgebiet aber sind die, die nach dieser Sichtung übrig bleiben.« 

Ekelhaft. 

Und doch ist da dieser Funke in mir. Die leise Frage, ob ich nicht doch irgendwie grundlegend anders bin als diese Leute, die etwas mühelos lassen können, bloß weil sie merken, dass es ihnen »nicht gut tut«. 

Einmal, ich wohnte noch in meiner riesigen Studi-WG, war die Freundin meines Mitbewohners zu Besuch. Eine wunderschöne Frau, die sich durch unsere dreckige Küche bewegte wie eine Tänzerin. Eine Kunststudentin, die Soli-Konzerte für Geflüchtete organisierte und an der ich, trotz intensiver Bemühungen keine negativen Eigenschaften finden konnte, die es mir erlaubt hätten, mich in ihrer Gegenwart weniger minderwertig und plump zu fühlen. Ich hatte für alle Frühstück besorgt und bereits auf dem Weg ein Stück Brötchen aus der Tüte gerissen. Als sie den Tisch deckte und das halb zerfledderte Brötchen sah, sagte sie überrascht »Oh nein! Was haben die dir denn da mitgegeben!« Ich machte ein verlegenes Öh und sagte, ich hätte mich nicht beherrschen können. Sie schaute mich groß aus ihren Walnussaugen an und sagte dann ohne jegliche Verurteilung, dass sie das noch nie gemacht habe. Sie fände es schöner zu warten, bis man dann richtig frühstücken könne. Meine Mitbewohnerin und ich schauten uns an, völlig überwältigt von dieser unschuldigen, pragmatischen Selbstfürsorge, dieser mühelos verzögerten Belohnung. Und ich hatte das Gefühl, eine andere Spezies zu sein. 

Ich kenne inzwischen viele Menschen, die Dinge nicht einfach lassen, bloß weil was anderes »schöner« wäre (ich nehme an, die SodaKlub-Community ist voll mit uns). Und je länger ich mich damit beschäftige, desto absurder kommt es mir vor, sie alle mit dem Label »Suchtpersönlichkeit« über einen Kamm zu scheren. 

Eine Eigenschaft begnet mir jedoch unter Menschen mit Abhängigkeitserkrankung immer wieder: Die Fähigkeit, intensiv zu fühlen. Der Musikproduzent Rick Rubin schreibt in seinem Buch »The Creative Act. A Way of Being«, viele Künstler:innen würden früh an einer Überdosis sterben, weil sie Drogen nutzen, um die schmerzhafte Existenz zu betäuben. »The reason it’s painful is the reason they became artists in the first place: their incredible sensitivity.« Anders zu fühlen, intensiver wahrzunehmen und Dinge zu sehen, die andere nicht sehen, kann sehr einsam sein. In der verzweifelten Suche nach Zugehörigkeit, blendet man weite Teile seines Innenlebens aus und unterzieht sich einem brutalen Prozess der Selbstnormierung. Das kann man so weit treiben, dass man sich selbst verliert und jegliches Gespür dafür verloren hat, wer zur Hölle man eigentlich ist.

Doch für den Weg raus, brauchen wir keine Begriffe, wie Suchtpersönlichkeit, die uns in einer pseudo Erklärung einfrieren, unsere Individualität verneinen und in einer Ecke der Gesellschaft abstellen, die für alle bequem ist, außer für uns. Der Weg raus, ist der Weg zurück: Zurück zu unserem seltsamen Selbst, zu unseren sensiblen Sinnen, unseren intensiven Gefühlen, zurück ins manchmal unerträgliche Jetzt. Und dort, genau in diesem unerträglichen Jetzt finden wir genau das, was wir eigentlich immer gesucht haben: Zugehörigkeit und Verbindung mit Leuten, die genauso weird sind wie wir.

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