Der Club
»Hi, ich bin Mia und ich bin Alkoholikerin.«
Es ist Mittwoch Abend, ich sitze in meinem wöchentlichen AA Meeting und sage die Unwahrheit. »Hi, mein Name ist Mia und ich bin Alkoholikerin.«
Dass ich Alkoholikerin bin, glaube ich schon lange nicht mehr. Und was noch verwegener ist: ich glaube nicht, dass irgendjemand sonst hier Alkoholiker ist. Ich frage mich manchmal, ob es ungesund ist, wenn ich regelmäßig etwas laut ausspreche, das ich für Bullshit halte. Entstehen dadurch möglicherweise ungewollte neuronale Verbindungen in meinem Gehirn?
Zu allem Überfluss bin ich seit einiger Zeit auch noch Chair (Vorsitzende) in meinem Meeting. Deswegen lüge ich nicht nur einmal, sondern muss mich am Ende ein weiteres Mal gegen meine Überzeugungen wenden, wenn ich das Schlussgebet einleite: »Gott, gebe mir die Gelassenheit …« Jaja, denke ich dann immer gequält, wenn es einen gibt, der wirklich gar nichts mit meiner Nüchternheit zu tun hat, dann ist das Gott.
Ich habe mich gegen den Job des Chairs gewehrt. Ich habe gedacht, dass ich, um die AA zu repräsentieren, vorbehaltlos hinter all ihren Grundsätzen stehen muss. Und das tue ich nicht. Ich widerspreche dem Programm in elementaren Punkten. Das fängt schon beim Namen an. Ich bin sowohl gegen »Anonym«, als auch gegen »Alkoholiker«. Wäre ich die Marketing Abteilung der AA, Wording wäre die erste Reform, die ich angehen würde. Diese beiden Wörter gehören meiner Meinung nach gestrichen. Kein Wunder, dass keiner zu den Anonymen Alkoholikern gehören will; es klingt als rede man von einer Bande Geächteter mit einer ansteckenden Krankheit. Wie wär’s stattdessen mit Stolze Nichttrinker? Selbstbewusste Überlebende? Unbeugsame Klare?
Ein besonders folgsames Mitglied bin ich auch nicht. Die elfte Tradition der AA breche ich praktisch täglich. Darin heißt es, wir Clubmitglieder sollten »gegenüber Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen stets unsere persönliche Anonymität wahren.« Vom ersten Tag an habe ich diese Tradition entschieden missachtet. Ich erzähle immer jedem sofort, dass ich abhängig war und zu Meetings gehe. Ein bisschen mache ich das wegen der Schockwirkung; da ich ja so gar nicht aussehe, wie sich die Leute eine Anonyme Alkoholikerin vorstellen kann man damit auf Parties auf unterhaltsame Art Verwirrung stiften. Ich mache es aber hauptsächlich deswegen, weil ich helfen will, das damit verbundene Stigma zu zerstören.
In meiner perfekten Welt müsste niemand anonym sein, erst recht nicht die Leute, die eine Sucht überwunden haben und sich somit als die härtesten Motherfucker dieser Welt qualifizieren. Wenn die Revolution kommt, dann will ich exakt diese Leute um mich rum haben. Das sind nämlich die, die wissen, was zu tun ist, wenn’s brennt.
Allgemein akzeptierter Definition zufolge sind diese Leute alle chronisch krank, weil sie kein Gift mehr in sich reinschütten können oder wollen wie der Rest der Welt. Hallo? Das ist doch absurd. Dass es eine Krankheit sein soll, mit dem regelmäßigen Konsum von Nervengift nicht umgehen zu können leuchtet mir immer weniger ein.
Aber darum soll es in diesem Text gar nicht gehen. Warum das Label Alkoholiker abgeschafft werden muss, warum Sucht keine Krankheit ist, warum weder mein Ego, noch meine »Charakterfehler« an allem schuld sind und wer außer Gott wirklich für meine Nüchternheit verantwortlich ist, all das werde ich in anderen Texten behandeln. In der Zwischenzeit könnt ihr dazu ja mal Holly Whitaker lesen.
In diesem Text geht es nicht darum, was an der Organisation AA reformbedürftig ist oder wo ihre Glaubenssätze wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen oder inwieweit ihre patriarchalischen Strukturen für Frauen ungeeignet sind. Es soll darum gehen, warum es für mich, trotz aller Kritik, funktioniert.
Heute ist eine Neue da.
Sie wirkt wie Treibgut, das von der Flut in den Raum gespült wurde. Die Neue ist Spannung von Kopf bis zu den Zehen. Sie presst sich in ihren Stuhl, versucht sich unsichtbar zu machen, den Blick starr auf ein weißes Papiertaschentuch gerichtet, das ihre Hände unermüdlich, ratsch, ratsch, ratsch, in kleine Fetzen reißen. Ihre Knie unter dem Tisch flattern wie ein Metronom. Jemand fragt sie lächelnd, ob das ihr erstes Meeting sei. Sie nickt und ihr wird sofort von rechts und links die übliche Einführung gegeben: Schön, dass du da bist, komm wieder, nimm dir eine Meeting Liste mit, geh auch noch zu anderen Meetings, du musst gar nichts, musst auch nicht reden, du musst nicht mal aufhören zu trinken, kannst einfach nur hier sein, einfach nur zuhören. Die Neue lässt alles über sich ergehen wie eine Katze, die ein bisschen zu heftig gestreichelt wird. Sie wirkt gleichzeitig dankbar und entsetzt.
Die Neuen sind wichtig. Immer, wenn jemand neues im Meeting sitzt, wird aus einer Zusammenkunft, die sonst manchmal lustig wie eine Klassenfahrt ist, wieder eine spirituelle Veranstaltung. Die Neuen erinnern die Alten daran, wie schlimm es mal war. Man kann Ihre Verzweiflung spüren, man kann spüren, dass sie am Ende ihrer Kräfte sind. Man fühlt, wie unendlich anstrengend es für sie ist, einfach nur da zu sitzen. Man will den Neuen alles geben, was man selbst bekommen hat, als man so roh und verwundbar am Strand der Nüchternheit angespült wurde. Man will ihnen vermitteln: Es wird nicht immer so sein, es wird besser, es gibt sie wirklich, die andere Seite, und nichts von dem, was du fürchtest, ist wahr. Komm nur wieder, bleib hier. Viele sieht man nie wieder. Was ist mit ihnen passiert, fragst du dich. Haben sie einen anderen Weg gefunden? Oder sind sie noch alleine da draußen und kämpfen gegen ihre Dämonen?
Die Anwesenheit der Neuen bringt viele dazu, in den Wortmeldungen von ihrem ersten Mal zu erzählen. Es gibt zwei Versionen von ersten Meeting-Geschichten. Version eins: Ich habe es gehasst und alle da für Idioten gehalten. Version zwei: Ich habe mich das erste Mal in meinem Leben verstanden gefühlt. Das verbindende Element in allen Geschichten: Ich wollte ums Verrecken in kein AA-Meeting.
Mein erstes AA-Meeting
Als ich das erste Mal zu einem Meeting ging, tat ich das deswegen, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Es gab keine Alternativen. Es gab kein Sober-Movement wie in den USA, es gab keine deutschsprachigen Blogs, keine Instagram-Gemeinde in der man sich gegenseitig rund um die Uhr mit Verbündeten über seine Erfolge auf dem Laufenden halten konnte. Es gab auch kein Erfahrungsspektrum, das man sich hätte anschauen können, niemand wusste, was ein Grauzonen-Trinker sein soll und von High Bottom Alcoholics hatte ich auch noch nie was gehört. Es gab keine Sober-curious-Bewegung, in der Leute sich organisieren, um ihre Beziehung mit dem Alkohol zu hinterfragen. Es gab nur: Alkoholiker und Normale. Die Normalen tranken. Und die Anderen gingen zu AA. Und als ich endlich einsehen musste, dass ich offenbar keine von den Normalen bin, gehörte ich unweigerlich zu den Anderen.
»Ich will zu keinem Club gehören, der mich als Mitglied akzeptiert.« Groucho Marx
Ich ging an diesem Augusttag 2017 in das Meeting, zu dem ich heute immer noch gehe, weil es um die Ecke von meinem Atelier stattfindet. Ich ging da hin wie ferngesteuert und es kostete mich alles, was ich hatte. Ich erinnere mich genau, wo ich an diesem Abend gesessen habe, ich erinnere mich an jede einzelne Person, die da war. Ich erinnere mich daran, dass ich gleichzeitig tief dankbar und tief entsetzt war, dass meine Hände taub waren und ich innerlich ganz ruhig wurde und dass ich ein angenehmes, unbestimmbares und sehr fremdes Gefühl von absoluter Machtlosigkeit hatte, so, als ob ich sterben würde, und das auch irgendwie okay fand. Später lernte ich den Namen dieses Zustandes: Kapitulation. Und die Leute in dem Meeting gaben mir alles, was ich brauchte. Ich erinnere mich daran, dass mich die Gruppe behutsam in ein dichtes, warmes Energienetz einwebte. Ein Netz aus Geschichten, die zwar nicht alle wie meine klangen, die aber alle ein Echo auslösen, ein Wiedererkennen. Das erste Mal hörte ich andere Menschen so über ihr Trinken reden wie ich selbst über mein Trinken dachte.
Ich kann nicht behaupten, dass ich mich in dem Meeting das erste Mal in meinem Leben zuhause gefühlt habe. Aber meine besondere Beziehung zum Alkohol, die kein normaler Mensch versteht, die versteht hier wirklich jeder. Alle hier wissen um die Tragweite, die existenzielle Bedeutung des Themas.
Und niemand hier wundert sich über all die verrückten Dinge, von denen du glaubtest, dass nur du sie abziehst. Eine Tasche voll leerer Flaschen in den Glasmüll bringen und dem Nachbarn ungefragt vorlügen, du hättest eine kleine Party gehabt. Aus fadenscheinigen Gründen eine Verabredung absagen, um alleine mit deinem Rotwein zuhause zu bleiben. Das Quiz machen: Bin ich Alkoholiker? Und dann in dem Quiz betrügen, obwohl doch niemand die Ergebnisse kontrolliert. Vor der Party anfangen zu trinken, damit du einen Vorsprung hast. Nach der Party zuhause weiter trinken. Lässig und beiläufig klingen, während du herauszufinden versuchst, was auf der Party passiert ist, an die du dich nur noch bruchstückhaft erinnerst. Solche und ähnliche Taktiken und Methoden sind nicht etwa von dir erfunden worden, wird dir klar, sondern andere Leute haben sie auch schon angewendet. Jeder hier hat sie angewendet. Das ist die schlechte Nachricht: Du bist nichts besonderes. Das ist die gute Nachricht: Du bist nicht allein.
Das richtige AA-Meeting finden
Ich hatte Glück, dass mein erstes Meeting eins war, in dem ich mich sofort wohl gefühlt habe. Es hätte auch anders laufen können. Denn kein AA-Meeting gleicht dem anderen. Jedes Meeting hat seine eigene Stimmung und eigene Schwerpunkte. Jedes Meeting zieht eine bestimmte Sorte Mensch an. Wäre mein Einstieg ein Meeting gewesen, in dem sehr viel darüber geredet worden wäre, dass wir als Alkoholiker dafür beten sollten, dass Gott unsere Charakterfehler von uns nimmt, die uns zweifellos zahlreicher gegeben sind als den normalen Menschen: Ich wäre nie wieder gekommen. Es gibt Meetings, in denen die Glaubenssätze so wortgetreu herunter gebetet werden, dass man die Konvertiten verdächtigen könnte, nicht selbst nachzudenken. Ich war schon in Meetings, in denen mir die bemühte gute Laune, die an einen katholischen Gospel-Gottesdienst aus amerikanischen Spielfilmen erinnert, so zuwider war, dass ich am liebsten auf die Barrikaden gegangen wäre. Es gibt Meetings, in denen sich all die jungen, hippen Großstädter versammeln, die man vor anderthalb Jahren noch in der Panorama Bar angetroffen hat und die jetzt mit der gleichen schrillen Begeisterung, mit der sie früher Pillen geschmissen haben, die Glaubenssätze deklamieren. Und es gibt natürlich auch die Meetings, die genau so sind, wie sich Außenstehende ein Meeting vorstellen: Eine Gruppe alter Männer mit grauen Bärten in zerschlissenen Lederjacken, die sich in einem schattigen Souterrain treffen, schwarzen Kaffee in sich hinein schütten und sich gegenseitig mit rauchigen Stimmen von ihren düsteren Tiefpunkten erzählen.
Das ist alles nichts für mich. Es ist mir zu dogmatisch, zu unflexibel, zu sehr wie Cliquenbildung in der siebten Klasse. Aber das heißt nicht, dass es für jemand anders nicht funktioniert. Was auch immer dich nüchtern und happy hält – auch wenn es möglicherweise ein wenig wie eine skurrile Sekte wirkt – solltest du machen.
Mein Meeting ist ungefähr so durchschnittlich wie die Meldestelle im Bürgeramt. Man trifft dort jede Sorte Mensch. Die jüngsten sind Anfang dreißig, die ältesten Ende siebzig. Sie haben fünf Monate Nüchternheit hinter sich oder fünfzig Jahre. Sie sind Türsteher, Lehrer, Rentner, Verkäufer, Anwälte, Künstler, Sozialarbeiter, Ärzte, Filmemacher, Programmierer, Journalisten, Vertriebler und Taxifahrer und Verwaltungsangestellte. Es gibt Leute, die früh mit dem Trinken angefangen haben und in Lichtgeschwindigkeit eine haarsträubende Säuferkarriere hingelegt haben, um dann mit Anfang zwanzig aufzuhören. Es gibt welche, die erst in der Rente so richtig angefangen haben. Es gibt gelangweilte Hausfrauen, deren kleine Sekt-Macke leise und unbemerkt zu einer rasenden Sucht mutiert ist. Es gibt junge Mütter, die den Stress der Mutterschaft mit abendlichem Weintrinken lindern. Es gibt Leute, die als Studenten viel feiern gegangen sind, um irgendwann überrascht zu bemerken, dass sie sich nebenbei ein handfestes Trinkproblem herangezüchtet haben. Es gibt Leute, die durch das Trinken alles verloren – Haus, Job, Familie – und nur um Haaresbreite überlebt haben.
Mit den meisten würde ich unter normalen Umständen nie in Kontakt kommen. Aber hier lassen mich diese Fremden für jeweils zehn Minuten tief in ihre Seelen blicken. Sie haben erst mal nichts gemeinsam, nur, dass sie nicht trinken können und dass sie hierher kommen, um die Wahrheit über ihr Trinken zu sagen, und um die Wahrheit über ihr Leben zu sagen. Für die meisten ist es ein und dasselbe. So hat es angefangen, für uns alle: Wir haben über einen großen und sehr beängstigenden Teil unseres Lebens die Wahrheit gesagt und so begonnen, gesund zu werden.
Warum AA funktioniert
Freunde fragen manchmal: Denkst du, dass du wieder anfangen würdest zu trinken, ohne AA? Meine Antwort: Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was passieren müsste, damit ich wieder trinke. Ich weiß aber: Angst vor einem Rückfall ist nicht der Grund, warum ich zu AA gehe. Ich gehe nicht da hin, weil ich glaube, keine andere Wahl zu haben. Ich gehe nicht da hin, weil ich niemand anderen habe, mit dem ich reden könnte oder weil ich nur noch mit Nicht-Trinkern befreundet sein kann. Ich gehe, weil ich wirklich gerne gehe. Ich gehe da hin, weil ich dort Freunde habe, weil ich allen gerne zuhöre. Weil ich neugierig auf die Fortsetzung ihrer Geschichten bin. Leute, die eine persönliche Apokalypse und eine anschließende Wiederauferstehung hinter sich haben, machen sich tendenziell interessantere Gedanken über die Welt als solche mit lückenlosen Lebensläufen. Und Leute, die dem Tod ins Auge geblickt haben, gewinnen eine gewisse intellektuelle und emotionale Furchtlosigkeit, die inspirierend ist.
Ich gehe da hin, weil es verdammt interessant ist, Menschen zur Abwechslung mal über wichtige Dinge reden zu hören, anstatt über nebensächlichen Bullshit wie Donald Trumps Tweets, die Unwirksamkeit der Mietpreisbremse oder die fadenscheinige Unterteilung der politischen Welt in Links und Rechts. In AA-Meetings gibt es keinen Smalltalk. Hier geht es immer um die großen Sachen. Jemand gesteht, dass er auf Reisen seinen Hund mehr vermisst als seine Frau. Jemand sagt, dass er Angst hat vom Fernsehen, und vor Kaffee, weil er fürchtet, davon abhängig zu werden. Jemand denkt laut darüber nach, sich eine Affaire zu suchen, weil seine Frau keinen Sex mehr haben will. Jemand hält eine tief philosophische Rede über den Zustand seiner Garage. Jemand sagt, dass er sich erst wirklich frei gefühlt hat, als seine verdammten Eltern endlich tot waren. Manche Aussagen tun weh, manche sind super lustig, in vielen kann man sich wiederfinden, weil sie alle von den Dingen handeln, die universell sind in der menschlichen Erfahrung.
Wir sind alle hungrig nach Wahrheit. Wir brauchen Wahrheit wie Nahrung. Wir sind so daran gewöhnt, uns mit Oberflächlichkeiten und Floskeln und konstruierten Identitäten über Wasser zu halten, dass wir auf die Frage wie geht es dir schon lange keine ehrliche Antwort mehr erwarten. Aber Smalltalk reicht nicht. Smalltalk ist wie Zucker. Er dient dir, auf die kurze Distanz, aber immer nur Smalltalk machen ist wie immer nur Kuchen essen. Er ernährt dich nicht. Er macht dich krank. Die Wahrheit sagen ist wie Fett: Eine nachhaltige Energiequelle. Die ersten paar Monate war ich nach jedem Meeting high. Berauscht von Bedeutung und Wahrheit. Die Wahrheit ist eine starke Waffe. Wenn das was du denkst, was du sagst und was du tust im Einklang sind, dann kommst du dem am nächsten, was persönliche Freiheit bedeutet.
Gemeinschaft ist das Gegenteil von Sucht
Es gibt einen Spruch, den man von Zeit zu Zeit an den Tischen hört: Du musst nicht jeden mögen, aber du kannst alle lieben. Kitschiger Emokram? Ja klar. Aber ich werde von Jahr zu Jahr hippiesker und deswegen muss ich manchmal auch kitschigen Emokram akzeptieren, auch wenn mein sarkastischer Geist alles herablassend aus dem Off kommentiert. Denn eins habe ich in den letzten Jahren auf die harte Tour gelernt: Aus der wahren Scheiße kannst du dich nicht raus denken. Dein Geist hilft dir, bei der Steuererklärung und in Diskussionen mit AfD-Sympathisanten, aber wenn es darum geht, die echten, wahren, elementaren Sinnprobleme zu lösen, hast du keine andere Wahl als auf dein Herz zu hören. Und die Sprache, die dein Herz spricht, ist nun mal die Liebe. Auch wenn es zutiefst uncool ist und wenn du es nicht hören willst und es nicht deiner sarkastischen Großstadtfrauen-Attitude entspricht und nicht zu deinen Biker-Boots passt: Liebe ist die Antwort. Liebe ist immer die Antwort. Und wenn du im Team Lover mitspielen willst, dann bedeutet das: Du musst alle lieben. Nicht nur deine Instagram Follower. Und du musst alle tolerieren. Nicht nur die aus der gleichen Filterblase.
Nicht, dass das einfach wäre. Adere Menschen gehen mir die meiste Zeit wirklich mega auf den Sack. Aber je länger ich in Meetings sitze und fremden Leuten dabei zuhöre, wie sie ihre Seelen entblößen, desto mehr verstehe ich: Unter unseren dünnen, männlichen oder weiblichen, liberalen oder konservativen, jungen oder alten Oberflächen sind wir alle gleich. Wir sind alle zerbrechlich. Wir alle sorgen uns darum, was andere von uns denken und wir alle sind die meiste Zeit über davon überzeugt, die anderen kommen besser mit ihren Leben klar. Wir vergleichen unser Inneres mit anderer Leute Äußerem. Wir alle wollen dazugehören. Verstanden werden. Wir alle lieben unsere Kinder und wir alle sind entsetzt, wenn wir anfangen unseren Eltern zu ähneln. Wir sind alle gebeutelt von geheimen Sehnsüchten, narzisstischem Selbstmitleid und verrückten Obsessionen. Wir alle kämpfen Tag für Tag gegen dunkle Impulse, gegen den Drang, unsere Angst vor der eigenen Endlichkeit und Verletzbarkeit zu betäuben. Wir alle haben Angst vor dem Sterben.
Sich mit anderen zu identifizieren und zu spüren, dass wir alle Teil eines großen, engmaschigen Gewebes sind, ist schmerzlindernd. Sich von fremden Menschen verstanden fühlen, angesichts all der Verrücktheit, die im eigenen Kopf stattfindet, ist, wie Laura McKowen schreibt, »das kühle Glas Wasser in der Hölle.«
»Die einzige Voraussetzung für eine Mitgliedschaft ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören.« Dritte Tradition der Anonymen Alkoholiker
Und selbst wenn ich mit dem Programm meine Probleme habe, selbst wenn ich die Regeln breche und Grundsätzliches in Frage stelle und nicht an Gott glaube und auch nicht an Alkoholismus, weiß ich doch zu jedem Zeitpunkt, dass das, was wir hier machen – in einen Raum gehen, uns an einen Tisch setzen und die Wahrheit sagen – wichtiger ist als all diese intellektuellen Haarspaltereien. Es ist eine Praxis, die spirituell von allerhöchstem Wert ist. Ich glaube wirklich, dass die Welt besser wäre, wenn sich alle Menschen, ohne Ausnahme, einmal die Woche zusammen setzen würden, um die Wahrheit zu sagen. Wenn du aufhören willst mit trinken (oder shoppen oder tindern oder essen oder hungern oder kiffen oder mit was auch immer du dich herumquälst), dann solltest du das machen: dir eine Community suchen, Leute suchen, die das gleiche durchmachen, dich mit denen zusammen setzen, Tee trinken und die Wahrheit sagen.