Abends Alkohol und morgens ein schlechtes Gewissen.

Über den Kreislauf leerer Versprechen

Ich wache um 4 Uhr morgens auf mit schwerem Herz und Hirn – ich habe gestern wieder getrunken. Ich habe brennenden Durst und mein Magen fühlt sich flau an. Das schlechte Gewissen, getrunken zu haben, ist wie der stinkende Motor des Gedankenkarussells. Was funktioniert noch alles nicht in meinem Leben? Wo habe ich versagt? Wo werde ich versagen? Ich muss dringend mal zum Arzt, wer weiß, wie das mit den Leberwerten aussieht. Wieso trinke ich ständig abends Alkohol, obwohl ich es mir anders vorgenommen habe? Wieso bin ich zu schwach?Ich treffe den Entschluss, heute nicht zu trinken. Heute wirklich nicht.Ich habe den Entschluss schon oft gefasst und immer einmal mehr gebrochen.Aber heute nicht.Ich schleppe mich zur Arbeit und irgendwann um die Mittagszeit geht es langsam wieder besser. Trotzdem bin ich nervös, fühle mich angespannt und irgendwie ängstlich. Ich denke noch einmal “Heute nicht”, aber dann denke ich erst so richtig über Alkohol nach. Denke darüber nach, dass ich nicht trinken darf. Wieso eigentlich nicht? Wer sagt das? Ist mein Verhalten wirklich so schlimm? Meine Güte, dann trinke ich eben mehr als andere - Ich tu damit ja auch niemandem weh. Es ist ja nicht so, dass ich schon morgens trinke. Bevor es soweit ist, würde ich schon aufhören. Ich lasse es einfach heute bei einem Glas. Es bringt doch auch nichts, sich selbst so zu quälen. Ich wache um 4 Uhr morgens auf mit schwerem Herz und Hirn. Ich habe wieder getrunken, und die Flasche ist wieder leer geworden. Warum zu Hölle ist das so? Wieso trinken ich abends Alkohol, auch wenn ich es mir anders vorgenommen habe?Bevor ich nüchtern wurde, hing ich oft in diesem Kreislauf. Mia nennt ihn ganz poetisch “den Tanz”. Ich nenne ihn den Kreislauf aus leeren Versprechen. Denn irgendwann hatte ich den Punkt erreicht, an dem ich mir immer wieder das Versprechen gab, nicht zu trinken und es immer wieder brach. Erst, als ich mehr über Alkohol lernte und wie er wirkt sowie über mich und wie ich funktioniere, kam ich der Erklärung näher.

Drei Fakten über Alkohol

1. Alkohol macht abhängig

Es ist so simpel, dass man sich fast dumm vorkommt, das festzustellen. Alkohol macht abhängig. Ja, auch mich. Ja, auch dich. Jede*n. Er macht sogar abhängig, obwohl man der Meinung ist, man hätte gute Gründe, um zu trinken.Ich dachte, ich würde trinken, weil ich einen Hang zu Depressionen habe. Vielleicht trinkst du, weil dein*e Partner*in scheiße zu dir war. Oder weil du mit deiner Chefin nicht klarkommst und dein Job so anstrengend ist. Weil du dich selbst nicht magst. Weil du dein Leben nicht magst. Vielleicht denkst du, du musst irgendwelche Stellschrauben drehen (mehr Yoga, besser essen), damit dein Leben besser wird und dann reduziert sich der Alkohol von allein.Der Clou: Dein Leben wird nicht besser, solange du so trinkst. Denn all diese “Gründe” sind Rechtfertigungen für deinen Konsum. Denn nochmal: Alkohol macht abhängig. Und vermutlich brichst du auch deshalb immer wieder dein eigenes Versprechen, heute nicht zu trinken.Wenn du nüchtern wirst, wirst du feststellen, dass viele der Probleme sich viel einfacher lösen lassen, weil du nicht mehr durch deinen eigenen Konsum begrenzt wirst.

2. Alkohol ist ein trügerisches Beruhigungsmittel

Alkohol hilft unserem Körper, sich zu entspannen und schneller einzuschlafen. Er dämpft die Erregbarkeit bestimmter Nervenzellen und mindert die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Nach ein paar Stunden lässt diese Wirkung nach und es wird wieder mehr Cortisol ausgeschüttet. Das passiert (wenn man abends zum Beispiel eine Flasche Wein getrunken hat), gerne mal zwischen drei und vier Uhr morgens. Davon wachen wir auf. Der Tiefpunkt, der unweigerlich nach dem Trinken kommt, passiert aber mit einer zeitlichen Verzögerung - das macht ihn so trügerisch. Denn wir bringen dieses Tief dann nicht mehr mit dem Alkohol in Verbindung. Außerdem stört Alkohol die REM-Schlafphase. Deshalb ist betrunkener Schlaf nicht erholsam.

3. Alkohol erzeugt die Probleme, die wir versuchen mit ihm zu bekämpfen.

Anxiety bzw. Nervosität ist für Viele ein Grund, weshalb sie trinken. Doch es ist auch ein Symptom, das bei Alkoholentzug auftritt. Ist man erst einmal an Alkohol gewöhnt, treten ganz subtile Entzugserscheinungen auf, die wir als Anxiety empfinden, als ein diffuses Gefühl der Leere oder dass “irgendwie etwas fehlt”. Alkohol “hilft” nur deshalb bei diesen negativen Emotionen, weil er sie selbst erzeugt hat.Ich kann im Nachhinein gar nicht mehr sagen, was zu erst da war: Der problematische Alkoholkonsum oder die Angststörung. Heute weiß ich aber definitiv, dass ich weniger Angst habe, seit ich nicht mehr trinke. Und Alkohol zu trinken, ist, wie Benzin auf deine Angst zu kippen - wie die Autorin Laura McKowen sagt.Grundsätzlich gilt: Es gibt kein Problem, das man nicht durchs Trinken noch schlimmer machen könnte.

Drei Fakten über uns

1. Willenskraft ist endlich

Der Begriff der Entscheidungsmüdigkeit (auf Englisch: decision fatigue), meint folgendes Phänomen: Den ganzen Tag über müssen wir große und kleine Entscheidungen treffen. Aber unsere Kraft, Entscheidungen zu treffen, nimmt den Tag über gesehen ab. Gerade nach einem anstrengenden Tag, wird es immer schwieriger, bewusst die Entscheidungen zu treffen, die uns unseren langfristigen Ziel näher bringen – besonders, wenn wir einfach einem bekannten Muster folgen können, das uns nichts abverlangt. Willenskraft wird auch manchmal mit einem Muskel verglichen – ja, man kann ihn trainieren, aber auch er wird irgendwann müde.Deshalb funktioniert es nicht, sich mit reiner Willenskraft zur Abstinenz zu prügeln. Denn auch wenn du eigentlich weißt, dass du weniger trinken solltest, ist da ein Teil von dir, der mehr trinken will. Und wenn die Entscheidungsmüdigkeit einsetzt, ist es meist dieser unbewusste Teil, der gewinnt. Deshalb fühlen wir uns manchmal wie auf Autopilot, wenn wir in den Supermarkt gehen und schon wieder liegt der Alkohol auf dem Band.Mehr dazu, wie man aufhört, findest du hier.

2. Wir finden immer Gründe zu trinken

Es wird sie immer geben: Die Anlässe, die wir abwarten wollen, bevor wir wirklich aufhören zu trinken. Die Familienfeier, der Geburtstag, das Tinderdate, das Ende der Pandemie. Es wird sie immer geben, die anstehende Herausforderung, bei der Alkohol uns helfen soll. Die unangenehmen Gefühle, die wir erwarten, wenn ein neuer Lockdown kommt, wir uns mit jemandem gestritten haben oder endlich unseren Roman schreiben wollen. Wir wollen diesen Gefühlen die Härte nehmen, weil wir insgeheim nicht glauben, dass wir sie ohne Alkohol überstehen. Wir verlassen uns schon so lange auf ihn, dass er nun einmal dazu gehört.Wir werden immer Gründe finden, zu trinken, wenn wir trinken wollen.

3. Kognitive Dissonanz ist verdammt anstrengend

Kognitive Dissonanz bezeichnet in der Sozialpsychologie einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand. Er entsteht dadurch, dass ein Mensch unvereinbare Kognitionen hat (Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten). Kognitionen sind mentale Ereignisse, die mit einer Bewertung verbunden sind. Zwischen diesen Kognitionen können Konflikte („Dissonanzen“) entstehen.Wikipedia „Kognitive DissonanzWir setzen uns einer enormen Spannung aus, wenn wir uns vornehmen, nicht mehr zu trinken, obwohl wir trinken wollen. Und wir wollen weiterhin trinken, weil wir sehr tief verwurzelte Glaubenssätze über Alkohol in uns tragen: Alkohol entspannt mich. Ohne Alkohol ist das Leben langweiliger. Mit Alkohol bin ich sozialer, mutiger, charmanter, witziger. Unterbewusst glauben wir, wir würden uns selbst einer wichtigen Stütze berauben, wenn wir nüchtern werden. Gleichzeitig wissen wir auf einer bewussten Ebene, dass Alkohol uns schadet und wir ein Problem haben. Weil diese Spannung extrem unangenehm ist, versuchen wir sie aufzulösen. Und am einfachsten ist das (kurzfristig), wenn wir einem dieser Bedürfnisse nachgeben und doch zum Glas greifen. Langfristig erhöht sich dabei die Spannung immer weiter.Die gute Nachricht ist jedoch: Es ist möglich, diese unbewussten Glaubenssätze aufzulösen. Das hilft uns, langfristig diesen Konflikt abzubauen, anstatt ihn weiter zu befeuern. Das ist der Ansatz von Büchern wie „This Naked Mind“ von Annie Grace.„Du trinkst, um die Qual zu beenden. Das Getränk selbst liefert dir keinen Vergnügen. Du genießt es aber von Herzen, die Sehnsucht nach einem Drink zu beenden. Die Erleichterung ist so intensiv, dass du dich glücklich fühlst, sogar ausgelassen. Du trinkst, um das Glücksgefühl zu bekommen, das jemand, der nicht abhängig ist, immer empfindet.“This Naked Mind 

Puh oke. Ich trinke trotzdem abends Alkohol, was jetzt?

Für manche Menschen mag es wunderbar funktionieren, sich einfach vorzunehmen, nicht mehr zu trinken und dann nicht mehr zu trinken. Ich persönlich kenne allerdings niemanden, bei dem das so geklappt hat.Für mich war einer der wichtigsten Schritte, die Mechanismen zu verstehen, wieso ich trinke, wann ich trinke und dann etwas in das Getriebe dieses Kreislaufs zu werfen, um ihn wenigstens kurz zu unterbrechen, damit ich Raum zum Atmen hab. Dafür habe ich unglaublich viel gelesen und habe mir Urlaub genommen. So konnte ich nicht blind meinen Routinen folgen und konnte auch meinen großen Trigger “Arbeit” zwischenzeitlich abstellen.Beschäftige dich mit Alkohol, lies mehr über die Wirkweisen, besorg die QuitLit. Das kannst du auch tun, während du noch weitertrinkst. Wenn du körperlich abhängig bist, solltest du sogar weitertrinken, bis du dir professionelle Hilfe geholt hast. Das ist wirklich sehr, sehr wichtig. Denn ein kalter Entzug kann lebensbedrohlich sein!Hol dir Hilfe! Schau bei den Beratungsstellen deiner Stadt vorbei, sprich mit deinem Arzt oder Ärztin und beginne eine Therapie. Du musst das alles nicht alleine schaffen! Vielen Menschen geht es genauso wie dir und auch sie haben es geschafft, aus diesem Kreislauf auszubrechen.Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Auf der anderen Seite ist es ziemlich gut.

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Alkohol und Feminismus: Wie Alkohol mir geholfen hat, die zu werden, die ich immer sein wollte