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Alkohol ist ein Kulturgut – Na und?

Hey, wusstest du, dass Alkohol ein Kulturgut ist? Natürlich wusstest du das. Es ist unmöglich, es nicht zu wissen. Egal ob links oder rechts, oben oder unten, jung oder alt; gebetsmühlenartig wiederholt man hierzulande vom Stammtisch bis zum Feuilleton: Wein? Kulturgut. Bier? Kulturgut. Besäufnis? Kulturgut. Bei mir hat sich inzwischen so etwas wie ein Pawlowscher Reflex eingestellt, sodass ich automatisch mit den Augen rolle, wenn ich das Wort »Kulturgut« nur höre. Dabei halte ich es nicht einmal für falsch, alkoholische Getränke zu den Kulturgüter zu zählen. Im Gegenteil, ich finde es sogar etwas unglücklich, dass die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen in einer Broschüre diesen Mythos widerlegen will. Die Aussage »Alkohol ist ein Kulturgut« sei falsch, schreibt die DHS, denn »Weinanbau und Alkoholkonsum haben zwar eine lange Tradition in Europa, der Konsum diente aber schon in frühester Zeit Ausschweifungen und Trinkgelagen.« Es folgt ein längerer Absatz über die Schädlichkeit von Alkohol. Folgeerkrankungen, Verkehrstote, Kriminalität, alles sehr wichtig. Die Sache ist bloß: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Dass Alkohol den Trinkgelagen diente, berührt die Frage nicht, ob man ihn als Kulturgut bezeichnen kann. Es ist problemlos möglich, Kulturgüter zu haben, die großen Schaden anrichten. Der Grund, wieso mich dieser Satz so nervt, ist genau das: Er sagt faktisch nichts aus. 

Kulturgut ist eine Nullaussage

»Die Alkoholwirtschaft legt Wert darauf, daß ihre Produkte als ›Kulturgut‹ bezeichnet werden. Ein treffender Begriff, wenn auch ein trivialer: alles, was Menschen mit Bedeutung versehen, ist ein Kulturgut. Goethes Werke ebenso wie eine Zahnbürste«

schreibt auch der Historiker Hasso Spode (2002 in: Strategien und Projekte zur Reduktion alkoholbedingter Störungen, Pabst Science Publishers).

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Man kann also quasi alles als Kulturgut bezeichnen: Das Billy-Regal von Ikea, Tennissocken, Tupperpartys oder diese komische Tradition, bei der Männer die Rathaustreppe fegen müssen. Kulturgüter sind Symbole, Objekte und Traditionen, die subjektiv für unsere Kultur bedeutsam sind. Und versuch mal, irgendwas zu finden, worauf das nicht zutrifft. Nein, wirklich. Guck dich um, ob du in deiner Wohnung irgendeinen Gegenstand hast, der nicht durch komplexe kulturelle Prozesse hervorgebracht wurde oder das Ergebnis von vielfältigem gesammelten Wissen, Erfahrungen und Praktiken ist.

Es kommt mir etwas albern vor, das überhaupt zu sagen, aber: Bloß, weil etwas von der Kultur hervorgebracht wurde, ist es noch lange nicht gut. Alle schrecklichen Praktiken waren (oder sind) Kulturgüter: die Hexenverbrennung zum Beispiel; Prügelstrafen, Sklaverei, Kinderehen oder weibliche Genitalverstümmelung. All das hat oder hatte kulturelle Bedeutung – ist es deshalb gut? Nein. Glücklicherweise kann Kultur sich aber verändern. Wir haben schon mit viel weniger dramatischen Praktiken aufgehört: Wir machen Bleigießen nicht mehr mit echtem Blei (ein echt smarter Move), rauchen nicht mehr im Restaurant oder nennen unverheiratete Frauen »Fräulein«. Und so richtig fehlen tut das den wenigsten (außer vielleicht ein paar FAZ-Redakteuren).

Natürlich habe ich nichts dagegen, besondere Bauwerke zu schützen oder irgendeinen netten Brauch zu fördern. Aber weder der Kölner Dom, noch das Wunnsiedler Brunnenfest bringen jedes Jahr einen Haufen Leute um.

Kulturgüter müssen geschützt werden!

Trotzdem schwingt im Begriff »Kulturgut« eine gewisse Wichtigkeit mit. Nicht umsonst hat die UNESCO es sich zur Aufgabe gemacht, bestimmte nationale und internationale Kulturgüter auszuzeichnen und (zumindest ideell) zu schützen. Entsprechend klingt die UNESCO-Definition auch etwas bedeutungsschwerer als die von Hasso Spode: »Kulturgüter sind Teil des kulturellen Erbes der Menschheit und verbunden mit vielfältigem gesammelten Wissen, Erfahrungen, Praktiken, Lebensformen und kultureller und heimatlich-naturräumlicher Identität. Werden Kulturgüter zerstört, dann wird auch eine Quelle von Wissen und Identität beschädigt.«

Und das ist der eigentliche Grund, weshalb an jeder Ecke die Alkohol-ist-Kulturgut-Keule rausgeholt wird. Denn wenn Lobbyist:innen vom Wein als Kulturgut sprechen, meinen sie nicht ein Produkt, das durch gesellschaftliche Konstruktionsprozesse mit Bedeutung aufgeladen wurden. Sie meinen: Wein ist wertvoll. Wein ist gut. Wein ist schutzbedürftig – und alle die ihn beschädigen, beschädigen unsere Identität. Kein Wunder, dass Lobbyverbände ein Interesse daran haben, alkoholbezogene Praktiken auf die Listen der UNESCO zu kriegen, denn sie stellen damit ihr Produkt unter Schutz. 

Wie wird man UNESCO-Kulturerbe?

Was die meisten Menschen nicht wissen: Die UNESCO hat nationale und internationale Listen, sozusagen eine 1. und eine 2. Liga. Auf die nationale Liste zu kommen, ist gar nicht so schwierig. Als Initiative reicht man eine Bewerbung ein und die Bundesländer treffen eine Vorauswahl für die Kultusministerkonferenz. Die deutsche UNESCO- Kommission prüft die Vorschläge und beschließt eine offizielle Auswahl, die in das Verzeichnis des bundesweiten immateriellen Kulturerbes aufgenommen wird. Es ist eine wirklich lustige Mischung, die da zusammenkommt. Mit dabei sind das Orgelspiel, die Streuobstwiese und das Kaspertheater, ebenso wie das Skatspielen, die Hip-Hop-Kultur in Heidelberg und die traditionelle Karpfenteichwirtschaft in Bayern. 

Seit 2020 ist nun auch handwerkliches Bierbrauen, seit 2021 die Weinkultur in Deutschland und seit 2022 die handwerkliche Apfelweinkultur nationales Kulturerbe. Alle drei wurden von derselben Kommission ausgewählt, die von 2019 bis 2022 für die Prüfung der Bewerbungen zuständig war. Eingereicht wurde die Bewerbung für die Weinkultur von der Lobbyorganisation Deutsche Weinakademie, initiiert durch den damaligen Landesweinbauminister und heutigen Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP). Unterstützt wurden sie durch das rheinland-pfälzische Wirtschaftsministerium. Der deutsche Brauerbund wurde im Jahr 2018 noch mit seiner Bewerbung für das Deutsche Reinheitsgebot abgelehnt. Laut Ablehnungsschreiben habe man den Eindruck, die Deutsche Bierproduktion sei inzwischen sehr industriell geprägt. 2020 klappte es dann aber doch, diesmal eben mit dem handwerklichen Bierbrauen. Es ist im Grunde auch egal, denn in der Kürze der Überschriften fallen die Details gerne unter den Tisch. Übrig bleibt die Botschaft: Deutsches Bier ist UNESCO-Kulturerbe. 

Auf die internationale Liste »Welterbe« zu kommen, ist übrigens deutlich schwieriger. Als alkoholisches Getränk hat es bislang nur das belgische Bier geschafft (2016). Dass Brüssel die Hochburg der Alkohollobby ist, steht vermutlich in keiner Verbindung zu dieser Entscheidung.  

Kulturerbe ist Marketing

Es wird gerne so getan, als gäbe es objektive Standards, welche Kulturgüter zu schützen sind. Doch ist es eben ein politischer Prozess, welche Praktiken und Orte von der UNESCO ausgezeichnet werden. Das zeigt auch ihre ungleiche regionale Verteilung. Deutschland ist auf der Liste für materielles Welterbe mit 52 Orten vertreten. Nepal mit vier. Uganda mit drei. Man muss also Zeit und Ressourcen für so einen Prozess haben – und viele Länder und Interessengruppen haben das nicht. Für die Vermarktung von Alkohol ist das natürlich praktisch, zumal man es mit den feineren Unterscheidungen nicht so ernst nimmt. Wie etwa die Weinakademie, die es nur auf die Liste der nationalen immateriellen Kulturgüter geschafft hat, aber auf ihrer Seite »Wine in Moderation« schreibt: »In manchen Ländern wird Wein sogar als UNESCO-Weltkulturerbe geehrt.« (Wein »als« Welterbe zu ehren, muss ja nicht heißen, dass er es auch ist, oder? Zwinker)

Der Werbeeffekt ist natürlich perfekt. Man inszeniert ein kommerzielles Konsumprodukt als integralen Bestandteil kultureller Identität. Wer trinkt, trinkt nicht einfach nur, sondern bedient sich einer wertvollen Kulturtechnik, die ausdrückt, wer wir sind. Und so wie Sprachen aussterben, wenn niemand sie mehr spricht, stirbt die Weinkultur, wenn Menschen aufhören zu trinken. Saufen ist dann sozusagen patriotische Pflicht. »Werden Kulturgüter zerstört, dann wird auch [...] Identität beschädigt.« schreibt schließlich auch UNESCO.

Ich will gar nicht behaupten, dass alkoholische Getränke unsere Kultur nicht geprägt haben, und dass Bräuche, die mit Alkohol in Verbindung stehen, nicht auch zur Gemeinschaft beitragen. Die Frage ist nur, ob wir es schaffen, uns von den Marketingbotschaften zu befreien, dass Alkohol und alles was ihn umgibt, ein schützenswerter Teil unserer Identität ist. Vielleicht sollten nicht gerade die Gewinninteressen der Lobby darüber entscheiden, was wir bewahren wollen und was sich verändern darf. Denn was schon immer so war, ist nicht automatisch gut, und Veränderung nicht gleich ein Schaden an der Kultur – vor allem nicht, wenn das Produkt ein Nervengift ist.