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So überzeugst du dich, dass du kein Alkoholproblem hast

Die Pandemie hat viele Schwachstellen in unserem System offengelegt. Eine davon ist unser Alkoholproblem. Oder besser gesagt, die Frage, ob wir (schon) eins haben. Wir reden gerade mehr als sonst über unser Trinken. Vor dem Lockdown hatten wir Grundsätze, an denen wir unseren Konsum ausrichten konnten. Wir hatten beispielsweise die Regel, dass wir nicht alleine zuhause trinken. Aber jetzt sind wir so viel alleine zuhause, dass wir dafür irgendeine Ausnahmeregelung brauchen – sonst müssten wir ja aufhören. Und das wäre denkbar schlechtes Timing, denn wir hatten einen Drink wirklich noch nie so nötig wie jetzt.

Von meiner kleinen, sonnigen Terrasse der Nüchternheit aus betrachtet, wirkt diese geschäftige Verhandlung des kollektiven Massenkonsums fast amüsant. Die kreativen Verrenkungen, die  unternommen werden, um die Zone des gesellschaftlich akzeptablen Konsums auszuweiten, sind beeindruckend. Sie erinnern mich an die Anstrengungen, die ich selbst einst unternommen habe, um meinen Alkoholkonsum mit mir selbst zu verhandeln. Die Fragen: Wie viel ist zu viel? Und: Wann wird es gefährlich? sind brandheiß und werden auf kollektiver und individueller Ebene analog verhandelt.

Scheinbar wird in der Redaktion der ZEIT auch gerne getrunken. Jedenfalls machen die RedakteurInnen immer wieder mit leidenschaftlichen Plädoyers für den selbstbewussten Konsum von sich reden. Elisabeth Raether hat vor einigen Jahren schon ein ganzes Buch darüber geschrieben, dass Trinken im Grunde Feminismus ist und Jakob Pontius hat neulich erst einen Text verfasst, in dem er behauptet, dass Trinken im Grunde Freiheit ist. 

Weil mich der Artikel sehr wütend gemacht hat, wollte ich eigentlich einen Text schreiben, in dem ich Pontius’ bescheuerte These entkräften wollte, aber habe dann gemerkt, dass die These viel zu leicht zu entkräften ist, als dass man auch nur einen einzigen interessanten Absatz darüber schreiben könnte (Fast alle Deutschen trinken, ergo ist das Trinken in Deutschland keine Rebellion, außer man möchte – warum auch immer – gegen eine verschwindend kleine Gruppe desinteressierter Abstinenzler rebellieren, These entkräftet). 

Aber beim Lesen des Textes ist mir aufgefallen, dass Pontius’ Monolog exemplarisch für die inneren Kämpfe ist, die jeder Mensch auf den Weg in die Abhängigkeit kämpft. Ihn zu lesen ist, wie in Echtzeit der Suchtrelativierung eines Intellektuellen zuzuhören. Der Text enthält sämtliche Tricks, mit denen das süchtige Gehirn dir einreden will, dass alles noch nicht so schlimm ist. Viele Abhängige suchen ja mitunter jahrelang nach einem zuverlässigen Test, der ihnen aufschlüsselt, ob sie ein Alkoholproblem haben oder nicht. Ich empfehle ab sofort Pontius’ Text. Wer sich mit den Gedankengängen darin identifizieren kann, ist schon auf dem besten Weg in ein handfestes Alkoholproblem.

Also zeige ich euch nun Anhand von Jakob Pontius’ Manifest für das Trinken beispielhaft auf, welche Strategien euer süchtiges Hirn anwendet, um euch zu verarschen. 

 

Priorisieren

Zum Auftakt eine dramatischen These: Das Trinken sei »eine der letzten Freiheiten im Lockdown«, schreibt Pontius. Schon in diesem Gedanken findet sich eine erste Spur: Wenn du ein männlicher, weißer, deutscher Zeit-Redakteur mit Job und abgezogenen Dielen in deiner Innenstadt-Wohnung bist und das Trinken von Ethanol als deine letzte Freiheit wahrnimmst, dann sollte dich das aufhorchen lassen. 

Drogen als Freiheit zu verkaufen, das ist ja auch gar nicht neu, das haben wir ja mit den Zigaretten auch jahrzehntelang gemacht, wir erinnern uns, Liberté toujours im Marlboro Country, und? Haben sie uns befreit, die Zigaretten? Generell gilt: Sehr hohe Erwartungen an Drogen zu hängen (Freiheit, Liebe, Revolution, Selbstverwirklichung) ist meistens ein Irrweg.

Auch wenn Alkohol einen hohen Stellenwert im eigenen Leben einnimmt, ist Vorsicht geboten. Siehst du etwa, wie Pontius, das Glas Wein »als Tageshighlight, auf das man hinarbeitet«? Man muss kein Verhaltenspsychologe sein, um zart Alarmglöckchen klingeln zu hören, wenn man ein solches Symptom an sich beobachtet. 

 

Rationalisieren

Wenn das nagende Bauchgefühl stärker wird, hilft es vielleicht, zu analysieren, warum du trinkst, warum du einst angefangen hast zu trinken oder warum du mehr trinkst als früher. In unserem Pontius-Manifest  wird das beispielhaft aufgeschlüsselt; Alkohol ist immer verfügbar, vermeintliche Sicherheiten geraten ins Wanken, es fehlt die soziale Kontrolle und außerdem: Die Zeiten sind ja ohnehin »schon hart genug«. Es gibt also sehr viele gute Gründe zum Trinken. Und jedes deiner Probleme taugt als plausible Erklärung: Trennung, Trauma, Schüchternheit, zu viel Arbeit oder zu wenig – alles super Anlässe, sich einen reinzustellen. Aber das wichtigste: Es geht nicht nur dir so. 

 

Vergleichen

Ein weiteres Mittel, um Distanz zwischen dich und dein Trinken zu bekommen: Zahlen. 37 Prozent der Teilnehmenden [einer Umfrage] sagten, während des ersten Shutdowns im April 2020 mehr getrunken zu haben als vorher, führt Pontius an. Du kannst dich also wieder beruhigen: Alle haben ein Problem. Nicht nur du. Pontius’ Text liefert auch gleich ein paar Beispiele von Leuten aus seinem Bekanntenkreis, die mehr trinken. Du kennst bestimmt auch welche! 

 

Normalisieren

Und überhaupt, wo kämen wir denn da hin, wenn wir uns nun auch noch diesen Spaß von den Moralaposteln und Selbstoptimierern, den neoliberalen Wellness-Kapitalisten vermiesen lassen würden! Da mache ich nicht mit! Ein bisschen Lebensfreude wird mir doch wohl noch erlaubt sein! Befriedigt stellt der Autor fest: »In Zeiten, in denen ringsum alle Gewissheiten wanken und sich oft existenzielle Unsicherheit breitmacht, ist gesundheitliche Selbstoptimierung offenbar nicht mehr ganz so en vogue.«

Der Text macht hier etwas sehr gerissenes: Er nimmt den Status Quo (alle trinken), definiert ihn als gesundes Mittelmaß und davon abweichende Verhaltensweisen als extrem. So werden die Nichttrinker in Pontius’ Text zu selbstoptimierten Asketen. Und die Trinkerin zum normalen Menschen. 

 

Othering

Weil ja doch immer wieder hinter all den relativierenden Gedanken das kleine nervige Stimmchen hörbar wird, das von Sucht spricht und sich auch der Autor in hellen Momenten fragt: »Ist all das nur eine bequeme Ausrede?«, kann man das Thema dann leider doch nicht komplett aussparen. Pontius stellt aber schnell fest: »Die Gefahr ist real, aber nicht für alle gleich groß.« Puh, gottseidank. 

Die nächsten paar Absätze kannst du jetzt damit verbringen, dich in einen der vier Trinkertypen einzuordnen, die ein gewisser Kofahl – seines Zeichens Ernährungssoziologe und somit wohl auch Drogenexperte – entwickelt hat, um dir selbst plausibel zu machen, warum das Ethanol zwar für irgendwelche anderen Leute eine Gefahr darstellt, nicht aber für dich. Egal, was dabei rauskommt, das Fazit ist lässig: »Die Pandemie verstärkt Tendenzen, die schon vorher angelegt waren.« Okay, cool. Wenn ich also vorher kein Problem hatte, dann habe ich jetzt immer noch keins.

 

Romantisieren

Der Experte erklärt uns außerdem, dass das Trinken grund menschlich ist. Denn »wir sind alle kleine Sünderlein« und »tendieren eindeutig zum guten Leben, nicht zur Selbstkontrolle.« 

Eine Interessante Idee, der Alkohol als Sünde. Eine Sünde meint ja eigentlich ein Verstoß gegen das Gebot Gottes. In Zeiten, in denen Gott nur noch für wenige eine Autorität darstellt, bezeichnen wir den Verstoß gegen moralische Verhaltensnormen als Sünden. Lassen wir kurz die Tatsache außer acht, dass es schon einen beachtliche kognitiven Aufwand erfordert, eine Verhaltensweise als »Sünde« zu klassifizieren, die eine so vollumfängliche gesellschaftliche Akzeptanz erfährt wie das Trinken. 

Viel interessanter: Wer oder was ist diese moralische Instanz, gegen die der Autor hier rebellieren möchte? Denn die angeheiterte deutsche Mainstream-Gesellschaft kann es ja nicht sein. Was nüchterne Leute in Deutschland erleben, lässt jedenfalls nicht darauf schließen, dass Trinken als moralisch verwerflich geahndet wird, egal in welchem Milieu man unterwegs ist.  

Es wird aus dem Text nicht eindeutig klar, was das Unwohlsein auslöst oder warum der Autor den Eindruck hat, die Alkoholfrage sei ein moralisches Problem. Denn der »Vorwurf«, den Pontius’ hier von sich weisen möchte, er kommt nicht von außen. Trinken ist nicht nur legal, es ist die Norm. Deutschland ist ein Hochkonsum Land, und das nicht erst seit der Pandemie. Die moralische Instanz, die du da in deinem Hinterkopf mahnen hörst, das bist du selbst, das ist deine eigene Stimme. Trinken ist weder Rebellion noch Systemkritik. Wir können uns entscheiden, zu trinken oder es sein zu lassen, beides hat keine nennenswerten gesellschaftlichen Konsequenzen. Wir müssen unser Trinken nicht erklären oder rechtfertigen, oder lange Artikel im ZEIT Magazin darüber schreiben. 

Erwachsene Trinkerinnen erkenne ich mittlerweile in den ersten fünf Sekunden des Gesprächs. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Trinken nicht thematisieren. Sie erklären ihr eigenes Trinken nicht, und sie verlangen auch nicht, dass du ihnen deines erklärst. Das – und nur das – ist Zeichen für einen risikoarmen Konsum: entspanntes Desinteresse. 

 

Fazit ziehen: Alkoholproblem? Eh egal.

Und am Ende dieses Manifestes läuft es unweigerlich auf das hinaus, worauf es immer hinausläuft: nichts. Ja, man muss Maß halten, ja man muss mal aufpassen. Aber all das Für und Wider, die Abwägungen, die intellektuellen Verrenkungen bringen uns nur wieder dorthin, wo wir vorher auch schon waren: zum Vorhaben, weiter zu trinken. Damit ist die Verhandlung vorerst abgeschlossen: »Ich kann mich auch bewusst für eine maßvolle Dosis Gift entscheiden. Das ist meine trotzige kleine Rebellion gegen das notwendige Korsett der Corona-Einschränkungen: der kontrollierte Kontrollverlust.« 

Alle, die sich wie Jakob Pontius mit den nagenden Zweifeln am eigenen Konsum herumplagen, ahnen es bereits: Sowas wie einen kontrollierten Kontrollverlust gibt es nicht. Entweder man hat die Kontrolle, oder man hat sie nicht. Es gibt kein Gefängnis außerhalb von uns. Doch wenn du trotzdem das Gefühl hast, nicht frei zu sein, dann ist da vielleicht was dran.